Behandle mich gut

MS-Betroffene in Deutschland sind es gewohnt, alle auf dem Markt zugelassenen Medikamente verschrieben und, abgesehen von der Rezeptgebühr, kostenfrei bekommen zu können. In England werden Medikamente teilweise gar nicht erst verfügbar gemacht. Was steckt dahinter?

Wird ein neuer Wirkstoff entwickelt, muss er im EU-Raum und auch in den USA die drei Hürden des Zulassungsverfahrens überwinden, um zugelassen zu werden. Die pharmazeutischen Firmen als Antragsteller müssen Wirksamkeit, Unbedenklichkeit und die pharmazeutische Qualität des Arzneimittels nachweisen. Dies geschieht in klinischen Studien, die oft langwierig und teuer sind. Meist hat aber schon im Vorfeld eine große Marketingkampagne eingesetzt, die Erwartungen wecken und so die Nachfrage ankurbeln soll. Eine Zulassung bescheinigt einem Arzneimittel nur eine prinzipielle Wirksamkeit. Bei Multiple Sklerose reicht schon die kurzzeitige Verbesserung weniger Parameter des Gesundheitszustandes, gewöhnlich Schubrate und Einsetzen der Behinderungsprogression, in einer bestimmten Zahl von Fällen, die nicht repräsentativ für den Durchschnitt sind, für einen solchen Nachweis aus.

Alles verfügbar, Schaden groß – die Situation in Deutschland

Für Deutschland gilt: Ist eine Zulassung durch die Europäische Arzneimittel-Agentur (European Medicines Agency – EMA) erfolgt, legen die Hersteller dem Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) ein Dossier zum Medikament vor, auf dessen Basis der GBA den Zusatznutzen bewertet; diese Bewertung ist die Grundlage für spätere Preisverhandlungen zwischen Hersteller und Krankenkassen. Doch bereits vom ersten Zulassungstag an kann in Deutschland das Medikament zu einem vom Hersteller zunächst frei festgelegten Preis verordnet werden.[1]J. Scheiderbauer: „Ein Armutszeugnis“, in: ZIMS, 2018; 6 (2). In Deutschland besteht eine Versicherungspflicht, so dass so gut wie alle Bundesbürger krankenversichert sind. Die Einnahmen der Krankenversicherungen bestehen aus den Beiträgen dieser Versicherten. Kosten für Therapien werden ganz oder teilweise übernommen.[2]T. Gerliner: „Vom Hersteller zu den Verbraucherinnen und Verbrauchern: Zulassung, Herstellung und Vertrieb von Arzneimitteln“, in: Dossier Gesundheitspolitik, Bundeszentrale für politische … Weiterlesen

Im Fall der MS-Medikamente heißt das, dass der Löwenanteil der meist vierstelligen Kosten für ein MS-Medikament pro Monat durch die Krankenkassen übernommen wird. Eine eingehende Prüfung der vom Hersteller erhobenen Originaldaten findet durch die Zulassungsbehörden nicht statt, ebenso wenig wie eigene Untersuchungen. Dass die klinischen Prüfungen in vielen Fällen nicht oder nicht angemessen auf die Praxis der Krankenversorgung zugeschnitten sind, müsste bekannt sein, interessiert aber kaum jemanden. Die Zulassungsbehörden müssten selbst aktiv werden und einem Arzneimittel nachweisen, dass es ungeeignet ist. Das passiert so gut wie nie. Woran es liegt, dass sich auch die Krankenkassen nicht dafür interessieren, ob der Patientennutzen der Medikamente überhaupt in einem vertretbaren Verhältnis zu den Kosten steht, ist nicht klar. Vielleicht fallen die Kosten einfach nicht ins Gewicht, oder vielleicht leisten Lobbyisten hier ganze Arbeit. Für MS-Betroffene in Deutschland steht daher mittlerweile eine fast unübersichtliche Anzahl an Medikamenten zur Verfügung. Und stetig kommen neue dazu. Es sind aber eben auch die Betroffenen, die das Nachsehen haben.

Es fehlt an Vergleichsstudien, also Studien, die die Wirkung zweier Medikamente miteinander vergleichen. Und es hat sich die Praxis der so genannten Anwendungsstudien etabliert. Dennoch können Neurologen keine Auskunft darüber geben, welches Medikament für ihre Patienten individuell das jeweils richtige ist und müssen stattdessen eines nach dem anderen verschreiben, weil sie für jede Anwendungsbeobachtung ein Zusatzhonorar durch den Hersteller bekommen. Durch diese Verschreibungspraxis werden oft auch (schwere) Nebenwirkungen erstmals bekannt, die in der kurzen Laufzeit der Zulassungsstudien nicht aufgetreten sind. Patientinnen und Patienten haben zwar die volle Auswahl, werden aber zu Testkaninchen gemacht.

Blick über den Ärmelkanal

Anders in England: Hier wird das Gesundheitssystem durch den National Health Service (NHS) organisiert. Der NHS finanziert sich nicht über ein Sozialversicherungssystem, sondern aus den Steuereinnahmen, was eine völlig andere Arbeitsgrundlage bietet. Auch hier müssen Medikamente durch das Zulassungsverfahren. Der NHS verfolgt die Richtlinie, dass bei einem zugelassenen Medikament die Wirkung größer als die möglichen Nebenwirkungen sein muss. Aber auch wenn das Medikament eine Zulassung hat, bedeutet das nicht, dass MS-Betroffene in England dieses Medikament auch verschrieben bekommen können. Je nachdem, wo man lebt, ist die Prüfung durch eine weitere Behörde notwendig, z.B. das National Institute for Health and Care Excellence (NICE); dessen Aufgabe besteht darin zu prüfen, ob ein Medikament sowohl wirksam als auch kosteneffektiv ist. Hierzu fordert das NICE Daten des Unternehmens an, welches das Medikament produziert. Es überprüft diese Daten auf medizinische und ökonomische Evidenz, macht also eine Qualitätskontrolle.[3]Dieses Verfahren heißt „NICE technology appraisal“. Siehe: https://www.nice.org.uk/about/what-we-do/our-programmes/nice-guidance/nice-technology-appraisal-guidance [18.04.2019]. Außerdem werden die so genannten stakeholder[4]NICE: Developing NICE guidelines: a guide for stakeholders and the public, Oktober 2014, URL: … Weiterlesen, also Menschen, die in den verschiedenen Bereichen des Gesundheitssystems tätig sind oder auch die dortige MS-Gesellschaft, dazu befragt. Dieser umfangreiche Prozess dauert in der Regel 43 Wochen. Erst wenn das NICE positiv entscheidet, können Betroffene das Medikament über den NHS kostenfrei beziehen.

Insel der Seligen?

Bei aller Kritik, die man am NHS üben muss, beispielsweise, weil eine gute Gesundheitsversorgung je nach Region, in der man lebt, zu einem Lottospiel werden kann, aus dem Blickwinkel der Patientensicherheit sieht das erstmal sehr gut aus. Ein Medikament kommt in England nicht auf den Markt, wenn es den strengen Evidenzkriterien des NICE nicht genügt. Ein Verfahren wie die Anwendungsbeobachtung wäre dort nicht möglich. Wirft man aber einen Blick auf die Liste der verfügbaren MS-Medikamente in England[5]Disease modifying drugs (DMDs), in: Multiple Sclerosis Trust, März 2019, URL: www.mstrust.org.uk/about-ms/ms-treatments/disease-modifying-drugs-dmds#which-dmds-are-approved-for-use-in-the-uk … Weiterlesen weist diese dennoch kaum Unterschiede auf zu den Medikamenten, die MS-Betroffene in Deutschland bekommen können. Das liegt daran, dass das Hauptaugenmerk bei der Untersuchung von Medikamenten durch das NICE nicht bei der Patientensicherheit liegt, sondern darin, ob das Medikament seinen Preis wert ist (value for money), was auch letztlich nicht weiter verwundert, da man sich ja dem Steuerzahler gegenüber rechtfertigen muss. Auch die MS Society, das englische Pendant zur Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG), ist mit dem Verfahren nicht froh, wenn auch aus anderen Gründen. Deren Kampagne „Treat me right“ (Behandle mich gut/richtig) zielt unter anderem darauf ab, dass der NHS alle sich auf dem Markt befindlichen MS-Medikamente landesweit über den NHS verfügbar machen soll.[6]MS Society UK: Treat me right, URL: www.mssociety.org.uk/get-involved/campaign-with-us/treat-me-right [18.04.2019]. Denn es könnten ja einzelne MS-Betroffene von einem Medikament profitieren.

David gegen Goliath

Die Ergebnisse der Zulassungsstudien sind keine Geheimnisse. Mit etwas Fachwissen und Englischkenntnissen kann man sich selbst ein Bild von der Qualität der Studien machen, davon, welche Studienteilnehmer berücksichtigt und nicht berücksichtigt wurden, wie kurz oder wie lang behandelt wurde und welche Wirkungen und Nebenwirkungen zu verzeichnen sind. Diese Ergebnisse sehen dabei oft anders aus, als sie in der Öffentlichkeit dargestellt werden. Auf die Schwäche einer Zulassungsstudie und auf mögliche Schäden durch das Medikament hinzuweisen sowie die Wirkung des Medikaments mal in absoluten Zahlen darzustellen, so etwas haben wir schon oft in Publikationen wie diesem ZIMS-Magazin aufbereitet. Und damit sind wir ja nicht allein. Anfang 2019 legte die französische Zeitschrift „Prescrire“ Ergebnisse einer Schaden-Nutzen-Untersuchung vor, wonach von einer Reihe von MS-Medikamenten abzuraten sei, darunter Aubagio®, Tysabri® und Lemtrada®[7]„Towards better patient care: drugs to avoid in 2019“, in: Prescrire Int, 2019; 28 (203), S. 108–10, URL: htttp://english.prescrire.org/en/3092A534CED0F56A23FCE24D70502FAA/Download.aspx … Weiterlesen Hinter Prescrire steht ein unabhängiger Zusammenschluss von Medizinern und Pharmakologen, die sich der besseren Patientenversorgung in Frankreich verschrieben hat.

Aber weder wir noch Prescrire können dagegen ankommen, wenn die gesetzlichen Regularien im Gesundheitssystem es zulassen, dass die Wirksamkeit und Verträglichkeit eines Medikamentes gegenüber MS-Betroffenen maßlos übertrieben wird, nicht nur von den Medikamentenherstellern, sondern auch von Neurologen. Und dass millionenschwere Marketingkampagnen falsche Hoffnungen keimen lassen, Warnungen überhört und ernüchternde Zahlen leicht übersehen werden. Patientensicherheit müsste Aufgabe der Politik sein und es fehlt uns schlicht an politischen Einflussnahmemöglichkeiten. Und solange die Krankenkassen sich nicht dagegen wehren, alles finanzieren zu müssen, was den Zulassungsbehörden vorher geschönt verkauft wurde, wird sich nichts ändern und MS-Betroffene werden zum Spielball der Interessen. Letztlich sind aber auch MS-Betroffene aus England nicht sicher vor den Schäden, die ein MS-Medikament anrichten kann, wie man im Fall von Zinbryta® sehen konnte. Zwar hatte NICE das Medikament erst einmal abgelehnt, weil es nicht kosteneffektiv schien[8]MS news today: NICE Planning to Reject MS Treatment, Zinbryta, in England and Wales, URL: … Weiterlesen, sich dann aber doch für die Zulassung entschieden. Das Medikament wurde, nachdem Patienten an Nebenwirkungen verstorben waren, letztlich 2018 weltweit vom Markt genommen.

Nathalie Beßler

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Quellen

Quellen
1 J. Scheiderbauer: „Ein Armutszeugnis“, in: ZIMS, 2018; 6 (2).
2 T. Gerliner: „Vom Hersteller zu den Verbraucherinnen und Verbrauchern: Zulassung, Herstellung und Vertrieb von Arzneimitteln“, in: Dossier Gesundheitspolitik, Bundeszentrale für politische Bildung, URL: https://www.bpb.de/politik/innenpolitik/gesundheitspolitik/72757/vom-hersteller-zum-verbraucher, 01.03.2012 [18.04.2019].
3 Dieses Verfahren heißt „NICE technology appraisal“. Siehe: https://www.nice.org.uk/about/what-we-do/our-programmes/nice-guidance/nice-technology-appraisal-guidance [18.04.2019].
4 NICE: Developing NICE guidelines: a guide for stakeholders and the public, Oktober 2014, URL: https://www.nice.org.uk/Media/Default/About/what-we-do/our-programmes/developing-NICE-guidelines-information-for-stakeholders.pdf [25.04.2019].
5 Disease modifying drugs (DMDs), in: Multiple Sclerosis Trust, März 2019, URL: www.mstrust.org.uk/about-ms/ms-treatments/disease-modifying-drugs-dmds#which-dmds-are-approved-for-use-in-the-uk [18.04.2019].
6 MS Society UK: Treat me right, URL: www.mssociety.org.uk/get-involved/campaign-with-us/treat-me-right [18.04.2019].
7 „Towards better patient care: drugs to avoid in 2019“, in: Prescrire Int, 2019; 28 (203), S. 108–10, URL: htttp://english.prescrire.org/en/3092A534CED0F56A23FCE24D70502FAA/Download.aspx [18.04.2019].
8 MS news today: NICE Planning to Reject MS Treatment, Zinbryta, in England and Wales, URL: https://multiplesclerosisnewstoday.com/2016/10/04/nice-says-initial-no-to-zinbryta-as-ms-treatment-for-england-wales, 04.10.2016 [11.12.2020].