Betroffen vom DGN-Kongress

Gerade ist der 89. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN), ein Diskussions- und Fortbildungsforum für tausende Neurologen aus dem deutschsprachigen Raum, zu Ende gegangen. Tagungsort war das Kongresscenter in Mannheim, eine schöne Location in bester, zentraler Lage, die Besucher*innen strömten zahlreich. Ebenso zahlreich waren die vielen Servicemitarbeitenden der pharmazeutischen Industrie, die dem Publikum auf sämtlichen Gängen der über vier Etagen verteilten Kongressveranstaltungen mit Rat und Tat, kostenlosem Essen und Trinken, Sitzgelegenheiten sowie einem Unterhaltungsprogramm, bestehend aus Gewinnspielen, kurzen Firmenpräsentationen und geschmacklosen PR-Gags wie „Das Fahrrad hat MS“ und die Aktion der Stiftung eines Rosenbeetes unter dem Wortspiel „Multiple SkleROSE“, zur Seite standen.

Egal, wohin man wollte, auf dem Weg zum nächsten Vortrag führte kein Weg an diesen Ständen vorbei. Und man darf bitte nicht glauben, die Räumlichkeiten hätten nichts anderes zugelassen. Das Kongresscenter Mannheim bietet sehr große zentrale Säle an, die für die Vortragsveranstaltungen nicht herangezogen worden waren, und in denen die Industriestände hätten unterkommen können. Außenstehende könnten daher den Eindruck gewinnen, eigentliche Veranstalterin sei die Industrie, und so falsch ist das nicht. 2.223.344,50 Euro zahlten 81 Unternehmen zusammen an die Deutsche Gesellschaft für Neurologie für das Privileg, sich hier präsentieren zu dürfen. 59% des Gesamtbetrages – 1.317.087,50 Euro – stammten von den insgesamt 10 Pharmaunternehmen, die MS-Präparate führen oder entwickeln. Für dieses Geld durften Unternehmen neben ihren Ständen in 23 „Industriesymposien“ mit Hilfe eigens dafür bezahlter Meinungsführernder der Branche wissenschaftliche Sitzungen imitieren. Dazu kamen 39 „Industrieposter“, deren kommerzieller Ursprung inmitten der Posterausstellung für die Kongressbesucher*innen nicht als solcher ausgewiesen war (Die Zahlen sind aus den Angaben im DGN-Kongressprogramm ausgezählt). Honorare der Referierenden sind in diesen Summen noch gar nicht enthalten, genau wie die so genannten „Firmeneinladungen“, also die Übernahme der durchaus happigen Kongressgebühren für eine ungenannte Anzahl von teilnehmenden Neurolog*innen durch ein einladendes pharmazeutisches Unternehmen, im Grunde also eine weitere, indirekte und intransparente Kongressfinanzierung.

Mit einem Teil der Pharmamillionen wurden die „VIP-Lounges“ finanziert. Unternehmen mit den größten Industrieständen – wieder meist jene, die hochpreisiger MS-Präparate herstellen– hatten diese eingerichtet. Hier konnten oben genannte Meinungsführer*innen sich ungestört vom gemeinen Volk ausruhen und vernetzen. Man traf sie folgerichtig auch kaum außerhalb von Vortragssitzungen, in denen sie selbst Referent oder Vorsitzender waren. Schon gar nicht traf man sie im Publikum, sie stellten sich keiner wissenschaftlichen Diskussion, sie blieben lieber unter sich. Immerhin waren sie alle untereinander per Du.

Überhaupt enthielten ihre Vorträge in den Industriesymposien eine sehr persönliche emotionale Note, so war ein Vorsitzender regelrecht gerührt von den 15 gemeinsamen Jahren, die er seit Markteinführung eines bestimmten MS-Medikamentes zusammen mit dem Hersteller gegangen war. In den Veranstaltungen des „wissenschaftlichen“ Programms erlaubten sie sich solche Töne nicht. Statt dessen überzogen sie das Auditorium mit einer hastigen Aneinanderreihung scheinbar eindeutiger Studienergebnisse („Wir wissen, dass …“), und unterließen jegliche kritische Analyse von Studiendesign und alternativen Dateninterpretationen. Statistische Kenntnisse schienen sich in häufiger Nennung das Begriffes „signifikant“ zu erschöpfen, Patient*innen-orientierte Endpunkte wurden zwar gefordert, bei genauem Hinhören ging es eigentlich um Industrie-orientierte Endpunkte für eine zügigere Medikamentenentwicklung. Fragen aus dem Auditorium waren selten, kontroverse wissenschaftliche Diskussionen kamen nicht vor. Wenige positive Ausnahmen bestätigten die Regel.

Einziger Lichtblick waren die Aktivitäten der Initiative „NeurologyFirst“. Zum ersten Mal fand ein wissenschaftliches Symposium unter der Federführung von NeurologyFirst statt. Inhaltlich bot das Symposium methodische Schulung an, enttarnte etwa die Bias-Tricks der kommerziellen Studien, und es war sehr gut besucht. Erwartungsgemäß sah man hier keinen der „Experten“, die der Industrie gewöhnlich als Studienleiter*innen, Berater*innne und Referent*innen (s.o.) dienen.

Zusammenfassend fielen bei den Veranstaltungen nicht nur die unreflektierte Industrienähe sowie ein ausgeprägtes Defizit im Bereich klinisch-wissenschaftlicher Methodik und korrekten Berichtens klinischer Studienergebnisse auf, sondern auch das Fehlen von Maßnahmen, die nachfolgende Generation von Neurolog*innen entsprechend zu schulen. „Torheiten und Trugschlüsse in der Medizin“ lautet der Titel eines leider nur noch im Antiquariat erhältlichen, sehr empfehlenswerten Buches der Autoren Petr Skrabanek und James McCormick von 1995, und von Torheiten und Trugschlüssen wimmelte es auf diesem Kongress. Es kommt harte Arbeit auf alle Neurolog*inen zu, die sich primär für ihr Fach und ihre Patient*innen engagieren, um das Steuer noch einmal herum zu werfen. Anfangen müssen sie mit konsequenter wissenschaftlicher Nachwuchsschulung und einer entschlossenen Präsenz in allen Veranstaltungen, um im Anschluss an tendenziöse Vorträge die Scheinargumente widerlegen zu können.

Jutta Scheiderbauer

Foto: Headway on Unsplash

4 Kommentare

  1. Petra Hömke-Nagel

    Vielen Dank für diese prägnante Darstellung des Neurologen Kongresses, Frau Dr. Scheiderbauer! Als Erkrankte bin ich von der Interessenslage der Pharna-Industrie mittlerweile wenig überrascht; allerdings von der DÜMMLICH geschmacklosen Werbung „multiple SkleROSE“ und dem Fahrradbeispiel…
    Herzlichen Dank für Ihr Engagement! Wir MS-Patienten müssen uns wirklich nicht für dumm verkaufen lassen!
    Herzliche Grüße
    Petra Hömke-Nagel, Erkelenz

  2. oh je, das muss wirklich schlimm (gewesen) sein.
    danke für den beitrag.
    kay

  3. Gerald Witkowski

    Liebe Jutta,

    vielen Dank für diesen Beitrag. Wunderbar, wie klar und deutlich hier beobachtet wurde und beschrieben wird, was absolutes No-Go sein sollte, wenn denn eine patientenorientierte und ansonsten unabhängige wissenschaftliche Medizin das Ziel wäre…

    Die Etablierten merken nix mehr und sind sogar gerührt, wie ‚gut‘ und lange schon diese vermeintliche Partnerschaft zwischen den VIPs und der Industrie funktioniert!! Das ist Zynismus pur!!
    Es fehlen nicht nur Maßnahmen, die nachfolgende Neurologengeneration entsprechend zu schulen, sondern man gibt die ‚bewährten Wege‘ vor und sieht offenbar keinerlei Veranlassung zu einer Kurskorrektur.

    Bleibt zu hoffen, dass sich Neurology First, die MEZZIs etc. mit ihren Vorstellungen und Zielen werden durchsetzen können…

    Herzlich
    Gerald Witkowski, MS-betroffener Kassenarzt i.R., Hildesheim

  4. Liebe Jutta,

    hab Dank, dass du für uns alle solche Veranstaltungen besuchst und uns an den Erlebnissen teilhaben lässt. Ich vermute sicher richtig, dass dort nur Mediziner oder Fachpersonal teilhaben dürfen?

    So erschreckend dein Bericht ist, er erschreckt nur noch wenig. Leider wiederholen sich die „Qualitäten“ dieser Veranstaltungen wohl immer wieder. Wie jämmerlich. Und ich vermute sicher richtig, dass es für den Besuch dort auch wieder Fortbildungspunkte für Mediziner gab, die diese ja auch brauchen und nachweisen müssen.

    Höchstwahrscheinlich haben sich die radelnden Ärzte auf dem „MS-Fahrrad“ dabei auch noch kaputtgelacht. Hat ja ein bissel was von Karussell. Und so gar nichts mit dem gemein, was ein Erkrankter wirklich ertragen muss.

    Ich wünsche mir, dass du auch zukünftig noch Energie für solche Veranstaltungen hast. Deine/ Eure Aufklärung ist mehr als Gold wert.

    Danke!!

    M.

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