Bockmist bei MS IV

Diesmal: Werbevideos aus der Hölle

Wer in den sozialen Medien unterwegs ist, sich für das Thema MS interessiert und vielleicht die eine oder andere Seite abonniert hat, stolperte in der zweiten Jahreshälfte 2020 vermutlich, wie wir auch, über eine neue Art von Werbe-Videos für MS-Medikamente, die nicht mehr gleich als solche zu erkennen sind und sehr geschickt die Sorgen und Nöten von MS-Betroffenen nutzen, um ihre Botschaft zu platzieren. Wir stellen zwei Videos vor, die uns ganz besonders genervt haben: eines der Firma Roche, und eines der Firma Novartis.

Im September 2020 wurde ein knapp zweiminütiges Video bei Facebook und Instagram verstärkt eingesetzt, es trägt den Titel Weltreise trotz MS. Sebastian entdeckt trotz chronischer Krankheit mit seiner Familie die Welt. Das Video wurde von der Initiative „trotz MS“ platziert, dass die Firma Roche dahintersteht, sieht man erst, wenn man die Webseite der Initiative öffnet. Das Video beginnt damit, dass man einen Mann im Anzug sieht, der auf einem Flughafen unterwegs ist. Eine Stimme berichtet darüber, dass er ein „mobiler Mensch“ sei, der zur Arbeit pendele und sich mit seiner Familie am Wochenende „eine schöne Zeit“ mache, daraufhin werden Bilder einer Frau und Kinder in einem sonnigen Garten eingeblendet. Er sei ein leistungsfähiger Mensch, sagt die Stimme, den seine MS im Alltag minimal beeinflusse, seine MS sei nicht sichtbar und er würde die Krankheit auch „niemandem auf die Nase binden“. Dann folgt eine Reihe von Urlaubsfotos, die von einer gemeinsamen Weltreise der Familie stammen sollen und die Aussage: „Mein Medikament ermöglicht es mir, so zu leben, wie ich leben will.“ Das Video zeigt dann den Mann Basketball spielend, dazu erzählt die Stimme, dass die Diagnose MS aufkam, als er mit der Doktorarbeit beschäftigt war und das sei schon „sehr schwierig“ gewesen, weil er nicht gewusst habe, „was das für sein Leben bedeute“. Aber nun mache er „keine MS-Planung“ mehr, sondern seine „Lebensplanung“. Das Video endet damit, dass der Mann und die Familie in den Sonnenuntergang spazieren und ein großer Schriftzug erscheint: „Du bestimmst, nicht die Multiple Sklerose. Frag deinen Neurologen nach geeigneten Therapieoptionen.“

Aktiv und leistungsstark bleiben, der Arbeit nachgehen, Reisen und sich um die Familie kümmern zu können, das sind wichtige Themen, die MS-Betroffene nach der Diagnose beschäftigen. Dieses Video soll vermitteln, dass das alles mit einer MS-Therapie weiterhin möglich sei, ohne aber nicht. Dass beides so nicht stimmt, ist doch mittlerweile bekannt und dass eine solche Werbebotschaft auch weiterhin, ohne Scham, verbreitet wird, ist sehr ärgerlich.

Ein anderes Video, über das wir gestolpert sind, geht in seiner Botschaft sehr viel subtiler vor, es wurde von einer US-amerikanischen Produktionsfirma mit Unterstützung der Firma Novartis produziert und trägt den Titel: Beneath The Surface – A Film About Living with MS, Building Community and What It Can Mean (dt.: Unter der Oberfläche – ein Film über das Leben mit MS, den Aufbau einer Gemeinschaft und was das bedeuten kann.) Das Video ist knapp 30 Minuten lang und beginnt mit Unterwasseraufnahmen und damit, dass eine Frau allein auf einer Wiese liegt und eine Stimme berichtet, dass gegen die Einsamkeit nur eine Gemeinschaft mit anderen helfe. Dann kommt eine Reihe von MS-Betroffenen zu Wort, die berichten, vor der MS ein aktives und erfolgreiches Leben gehabt zu haben, z.B. als Moderator, Journalistin oder Musiker. Daraufhin werden ältere Filmaufnahmen gezeigt, in welchen eine Frau einen Weg entlangschwankt und eine Stimme berichtet, dass man in früheren Zeiten als Arzt einfach nichts tun konnte und den MS-Patienten sagen musste, dass sie nach Hause gehen und nur darauf warten könnten, zu sterben. Mit dem Schnitt in die Jetzt-Zeit werden einige weitere Betroffene gezeigt, die ebenfalls berichten, dass man nicht wisse, was passiert und ihnen das Angst mache. Gezeigt wird auch eine Betroffene, die gepflegt wird. Jemand aus dem Off sagt, dass er lange gehofft habe, dass es noch einmal besser würde, aber er jetzt keine Hoffnung mehr habe. Daraufhin werden wieder Unterwasseraufnahmen gezeigt, wir sind bei Minute 5 des Videos, und ein Neurologe erläutert, was MS ist. Er benutzt dabei häufig den Ausdruck „brain damage“ (dt. Hirnschaden). Einige Betroffene und eine weitere Neurologin berichten dann, in loser Reihenfolge, von verschiedenen Symptomen und den Erfahrungen rund um die Diagnose, dazu werden viele Fotos und Filmausschnitte gezeigt, es fallen in diesem Zusammenhang Begriffe wie „lonely“ (einsam), „angry“ (zornig) und „disappointed“ (enttäuscht). Man sieht dann eine Frau in einem Schwimmbecken tauchen und der Neurologe erläutert daraufhin sein Modell des Zentralen Nervensystems als Wasserbecken, das, je nachdem wie voll es ist, Schäden ausgleichen könne, wobei viele Schäden eben unter der Oberfläche blieben, also nicht bemerkt würden. Diese Aussage wiederholt er später im Video. Es werden hier und auch zwischendurch im Video auch immer wieder MRT-Aufnahmen gezeigt, allerdings meist ohne Erläuterung.

Ab Minute 11 wird vermittelt, es sei „the first step to healing“ (der erste Schritt zur Heilung) die eigene Geschichte mit anderen zu teilen. Zwar gebe es eine Vielzahl an Behandlungsmöglichkeiten, aber es seien die Beziehungen zu anderen, die man eben nicht verschreiben könne. Es folgt dann aber ein Abschnitt zum Thema Berufstätigkeit mit und Vorurteilen gegenüber MS, hier werden auch zwei Betroffene gezeigt, die weinen, während sie über ihre Erfahrungen berichten. Dann ein Schnitt zum Neurologen, der berichtet, dass die Neurologie sich damit beschäftige, „who the person really is“ (was für ein Mensch das ist), und „how they feel and perceive and see and speak and feel“ (wie sie fühlen, was sie wahrnehmen, was sie sehen, wie sie sprechen und fühlen). Dann wieder ein Schnitt zu einer Betroffenen mit progredienter MS, es gibt auch eine Erklärung des Neurologen dazu und die Kamera folgt ihr, wie sie, mühsam, mit dem Rollator unterwegs ist. Man sieht erneut die schon erwähnte Betroffene, die gepflegt wird.  Daraufhin weitere Bilder und O-Töne von weiteren Betroffenen bis ein weiterer Schnitt zu der bettlägerigen Betroffenen überleitet und zeigt, dass sie ihren Enkel nicht im Arm halten kann, aber die Stimme berichtet, sie sei dennoch emotional stark. Dann berichtet der Musiker, dass er zwar nicht mehr so spielen könne wie früher, aber nun eben anders spiele. Und ein Betroffener berichtet, wie er als Ingenieur die Technologie nutzt, um seinen Alltag im Rollstuhl leichter zu machen. Es folgt eine längere Passage zum Thema Beziehungen, mit verschiedenen O-Tönen und Fotos, die mit der Aussage endet: „to suffer alone is probably one of the most painful human experiences there is“ (alleine zu leiden ist vermutlich eine der schmerzhaftesten Erfahrungen, die man machen kann). Das Video endet damit, dass wir die verschiedenen Betroffenen in Szenen sehen, in denen sie in Gruppenaktivität eingebunden sind oder jemanden umarmen. Man sieht den Neurologen, einer Patientin zugewandt, er sagt: „we hope for patients we can make a difference“ (wir hoffen, wir können für die Patienten etwas bewirken). Das Video endet mit der Aussage „everything is going to be ok“ (alles wird gut), außerdem der Aufforderung, Kontakt zu Menschen mit MS zu suchen und zuletzt mit dem Bild mehrerer Menschen, die auf einer Wiese liegen und einzelnen Personen, die in die Kamera lachen.

Die Botschaft dieses Videos besteht gar nicht so sehr darin, für den Zusammenhalt von MS-Betroffenen untereinander zu werben, obwohl das der Titel ja so angibt. Man hat in diesem Video auch keine Gelegenheit, sich die Berichte der Betroffenen in Ruhe anzuhören, da diese immer wieder unterbrochen werden. Die Absicht des Videos liegt wohl vor allem darin, Angst vor einer fortgeschrittenen MS zu machen. Das Video zeigt, dass dann nämlich ein trauriges Leben folgt, in welchem man den Traumberuf an den Nagel hängen und dankbar sein muss, wenn der gesunde Partner/die Partnerin sich nach der Diagnose nicht aus dem Staub macht. Daher soll man die netten und einfühlsamen Neurolog*innen um Hilfe bitten. Aber was können die anbieten, oder besser gefragt: warum hat Novartis diesen Film unterstützt? Na, die haben seit dem Sommer zufällig ein neues Medikament auf dem Markt, Mayzent®, das aber leider ein Fortschreiten einer Behinderung, wie es im Video so plastisch beschrieben wurde, nicht aufhalten kann.

Nathalie Beßler