Gab es früher schon gutartige MS-Verläufe?

Vor der Zulassung der Interferone waren zwar der Öffentlichkeit gutartige MS-Verläufe nicht bekannt, den Ärzt*innen aber sehr wohl. Als Medizinstudentin habe ich in diesem Zeitraum öfters meinen Onkel, einen Landarzt, auf seinen Hausbesuchen begleitet, und dabei zum ersten Mal vom Fall einer MS-Patientin mit gutartigem Verlauf erfahren. Ich habe das zuerst kaum glauben können. Etwas später besuchte ich dann die Neurologie-Vorlesung in Marburg, und dort erfuhr ich das gleiche. Tatsächlich existieren von früher oft keine guten wissenschaftlichen Daten, die heutigen Ansprüchen standhalten, weil die Medizin anders ausgeübt wurde, aber es wurden Erfahrungen von Generation zu Generation weitergegeben.

Warum hat die Öffentlichkeit nicht davon erfahren?

Weil auch Patient*innen damals über lange Jahre nicht erfahren haben, dass man bei ihnen eine MS vermutet. Mein Neurologie-Professor widmete einen langen Teil seiner Vorlesung der Diagnostik der MS, mit einem Schwerpunkt darauf, wie schwierig auf der einen Seite und wie folgenreich eine solche Diagnosemitteilung auf der anderen Seite sei. Er hat das Vorgehen vertreten, Patient*innen zu Beginn ihrer Erkrankung niemals seine Diagnosevermutung mitzuteilen, und so war das damals allgemein üblich. Wenn also früher jemand ein erstes neurologisches Ereignis hatte, und danach nicht mehr viel kam, hat schlichtweg niemals jemand  von der MS erfahren. Dazu kommt, dass Sensibilitätsstörungen nicht als Schübe gerechnet wurden, das hat zur Krankheitsdiagnostik damals nichts beigetragen.

Warum haben MS-Gesellschaften früher nicht darüber informiert?

Vermutlich, weil sie mit ihrer Öffentlichkeitsarbeit Aufmerksamkeit für die Schwere der Erkrankung wecken wollten, denn die Fürsorge der Organisationen galt bis in die 1990er ja vor allem sozialen Belangen schwer Betroffener, wofür Spenden gebraucht wurden.

Wie kommen wir heute an Informationen über MS-Erkrankte mit jahrzehntelangem gutartigem Verlauf?

Kürzlich saß ich neben einem 75-jährigen Herrn mit MS, der an einer Unterarmgehstütze ganz gut laufen konnte, und mir seine Geschichte erzählte. Anfang der 1980er erkrankt, ganz akut und schwer. Er bekam eines der ersten MRTs in Deutschland, und lief jahrelang als „der ED-Patient“, selbst nicht wissend, dass das MS bedeutete, und es wurde ihm erst viel später mitgeteilt. Zwei Jahre nach der Erstsymptomatik saß er fest im Rollstuhl. In den ersten 10 Jahren ging er regelmäßig zweimal pro Jahr für je 6-8 Wochen in Reha, dann wollte die Kasse das nicht mehr zahlen. Immuntherapien hat er nicht bekommen, erst gab es sie nicht, später ging es ihm wieder recht gut. Jetzt sei er wieder obenauf, so seine Worte.

Letztlich hat man aufgrund einer früher weit verbreiteten ärztlichen Ansicht, Patient*innen durch Vorenthaltung einer möglicherweise schweren Wahrheit schonen zu müssen, dafür gesorgt, dass vor allem schwere MS-Fälle ins Bewusstsein der Öffentlichkeit kamen, und dafür, dass leichte MS-Fälle gar nicht erst erfasst wurden. Daten zu der Häufigkeit langfristig gutartiger MS-Verläufe könnte man heute nur generieren, wenn man alte MS-Patient*innen ausfindig machte, die aber oft selbst nichts von ihrer Erkrankung wissen dürften, oder das nicht mehr ernst nehmen. Es bliebe nur die Möglichkeit, in alten Krankenhausarchiven von neurologischen Abteilungen alle Patient*innen mit einer Verdachtsdiagnose MS vor 30-40 Jahren aufzuspüren und zu versuchen herauszufinden, was aus ihnen geworden ist. Selbst wenn die alten Akten noch vorhanden wären, wäre das ein kaum zu leistender Aufwand, aber vielleicht mal eine Doktorarbeit in „Geschichte der Medizin“ wert. Alternativ müssten sich auch noch Zeitzeugen finden lassen, die beschreiben, wie damals MS-Diagnostik und Aufklärung betrieben wurde.

Jutta Scheiderbauer

Foto von Austrian National Library bei Unsplash

1 Kommentare

  1. Bernd Ortner

    Hallo und guten Tag,

    ich weis nicht so recht, was sie als Kommentar erwarten. Also ich habe sicher seit 2001 MS mit primär-chronischem Verlauf, die aber erst 2007 festgestellt wurde. Ich nehme keine schulmedizinischen Medikamente. Bestärkt in meiner Meinung, das so zu handhaben, wurde ich durch Berichte von Betroffenen im Gesundheitsberater und den Büchern von Dr. Weihe. Anfangs waren meine Einschränkungen gering, sind aber immer schlimmer geworden. Ich denke, dass ich 2014 eine schubartige Verschlechterung hatte. Von 1200 Km Fahrradfahren im Laufe des Sommers 2013 auf 300 Km im Sommer 2014. Jetzt fürchte ich, dass es weiter rasend abwärts geht. Ich würde mich heute in EDSS 4,0 einstufen.

    Bernd Ortner

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