Gier frisst Hirn oder: PML-Fälle durch MS-Medikamente

ZIMS-Leser*innen werden sich an den ersten „Gier-frisst-Hirn“-Artikel erinnern, mit dem wir anhand der PML-Fälle sowohl unter Tysabri und auch Tecfidera auf die schweren Therapierisiken hingewiesen haben, die sich aus dem blauäugigen Umgang der Neurolog*innent mit Immunsuppressiva für ihre MS-Patient*innen ergeben. Es scheint so, als würde daraus eine Fortsetzungsserie werden.

Denn jetzt ist auch unter dem neuen Medikament Ocrevus ein erster PML-Fall aufgetreten.[1]N. Tröbitscher: Ocrelizumab: Hirninfektion statt Hoffnungsträger?, URL: … Weiterlesen Nachdem etwa zwei Jahre intensives Marketingbombardement durch Roche schon hinter uns liegen, steht Ocrelizumab (Ocrevus®) in den Startlöchern zur Markteinführung. Aus den umfangreichen und sicher kostenintensiven Werbemaßnahmen war bereits abzuleiten, dass Roche eine hohe Gewinnerwartung mit diesem Medikament verknüpft, und für das Erreichen dieses Ziels zu allem bereit ist. Dass es tatsächlich gelungen ist, einen kleinen Vorteil für eine hoch selektierte Untergruppe von MS-Betroffenen mit primär progredienter MS (PPMS) zu generieren, liegt z.B. an einem sehr kreativen Umgang mit dem Studiendesign. Deshalb wird Ocrevus vermutlich das erste zugelassene Präparat für die PPMS werden, und zusätzlich auch für RRMS zugelassen, wo die mäßigen Vorteile sich im Rahmen der anderen MS-Präparate bewegen. Einen Nachweis für einen Langzeitnutzen gibt es selbstverständlich auch hier für beide Gruppen von Patient*innen  nicht. Trotz der eigentlich mageren Ergebnisse hat das Marketing soweit Erfolg gehabt, dass ein Bedarf danach entstanden ist, das Präparat schon vor der Zulassung auf besonderen Antrag hin Betroffenen zugänglich zu machen, im so genannten „compassionate use“-Programm.

Für Betroffene, die sehr schnell unter anderen Präparaten eine Behinderungszunahme entwickelt haben und sozusagen „mit dem Rücken zur Wand stehen“, mag diese Vorgehensweise durchaus zu rechtfertigen sein, aber man muss sich darüber klar werden, welch hohem Risiko man die Patient*innen aussetzt. Bei Ocrevus hat sich die PML-Gefahr jetzt unerwartet schnell bestätigt. Ein Betroffener hatte drei Jahre lang Tysabri erhalten, das MS-Präparat mit dem höchsten PML-Risiko auf dem Markt. Nach drei Jahren wurde es abgesetzt. Zurzeit sind keinerlei Angaben dazu bekannt, warum das erfolgt ist. War es eine Vorsichtsmaßnahme, weil nach zwei Jahren unter Tysabri statistisch das PML-Risiko ansteigt, hatte der Betroffene schwere Schübe unter Tysabri gehabt, oder war tatsächlich schon ein Anstieg des JC-Antikörpertiters erfolgt, der darauf hindeutet, dass die PML-Gefahr für diesen Patienten zunimmt? Wie auch immer, im Februar 2017 hatte er seine letzte Tysabri-Gabe erhalten, im März erhielt er keine Therapie, und bereits im April bekam er Ocrevus, also mit einer Therapiepause von nur einem Monat. Und wieder ist nicht veröffentlicht, was der Grund für die schnelle Wiederaufnahme einer immunsuppressiven Therapie war: Schübe, also klinische Krankheitsaktivität, oder nur das Durchziehen des NEDA-Therapiekonzeptes[2]siehe „NEDA“ als Therapieziel: Ein wissenschaftlicher Trugschluss?, URL: https://tag-trier.de/?p=137, 21.06.2015 [03.05.2021]., also MRT-Aktivität ohne klinische Relevanz. Einen weiteren Monat später, im Mai 2017, erkrankte der Betroffene an einer PML.

Wie muss man sich den Mechanismus dahinter vorstellen, dass eine PML in dieser Geschwindigkeit unter Ocrevus entstehen kann, wenn eine Behandlung mit Tysabri vorangegangen ist?

Man weiß aus der PML-Forschung, dass es die T4- und T8-Lyphozyten sind, die im intakten Immunsystem die JC-Viren in Schach halten, so dass man normalerweise keine PML-Krankheit entwickeln kann, auch wenn man infiziert ist.[3]T. Bartsch et al.: „Progressive neurologic dysfunction in a psoriasis patient treated with dimethyl fumarate“, in: Annals of Neurology, 2015, DOI: 10.1002/ana.24471, [07.07.2015]. Da Tysabri das Eindringen von T-Lymphozyten in das Zentralnervensystem (ZNS) unterbindet, um den Entzündungsprozess im Gehirn von MS-Betroffenen zu unterbrechen, werden unweigerlich auch die T4- und T8-Lymphozyten daran gehindert, den JC-Virus zu bändigen. Man muss davon ausgehen, dass im hier geschilderten Fall nach drei Jahren Tysabri die Anzahl an T4- und T8-Zellen im Hirn deutlich vermindert war. Es gibt keine diagnostische Möglichkeit zu kontrollieren, wann sie, nach dem Absetzen von Tysabri, wieder in einer ausreichenden Zahl im ZNS vorhanden sind. Nun ist Ocrevus ein Medikament, dass die T-Lymphozyten vollkommen in Ruhe lässt, stattdessen die B-Lymphozyten radikal reduziert. In den Zulassungsstudien zu Ocrevus ist kein PML-Fall aufgetreten, wohl aber sporadisch unter Rituximab, einem anderen Präparat der Firma Roche mit identischem Wirkmechanismus, das in der Krebstherapie eingesetzt wird. B-Lymphozyten haben andere Aufgaben als T-Lymphozyten, so sind sie die Produzenten von Antikörpern, die bei der Abwehr von Infektionen helfen. Doch die JC-Virus-Antikörper, die sie bei einer JC-Virusinfektion produzieren, können den JC-Virus nicht effektiv bekämpfen. Im Gegenteil, je höher der JC-Antikörper-Titer, umso höher das PML-Risiko. B-Lymphozyten sind dennoch entscheidend an der JC-Virusabwehr beteiligt, weil sie Oberflächenmarker des JC-Virus (Antigene) für die T-Lymphozyten vorbereiten (Antigen präsentieren). Ohne diese Vorbereitung werden die zuständigen T-Lymphozyten der Gefahr durch das außer Kontrolle geratene JC-Virus nicht gewahr, sie bleiben inaktiviert.

Es ist Spekulation, aber vorstellbar ist in diesem aktuellen PML-Fall folgendes Szenario:

Während der drei Jahre mit Tysabri sind die T4- und T8-Lymphozyten des Betroffenen in ihrer Anzahl im Gehirn erheblich reduziert worden, aber haben es noch geschafft, die PML abzuwehren. Im kurzen Zeitraum bis zum Beginn von Ocrevus hatten sie sich noch nicht wieder relevant vermehrt, und wenn, so war noch nicht Gelegenheit, sie ausreichend gegen den JC-Virus zu aktivieren. Dann wurde Ocrevus gegeben, und praktisch auf einen Schlag fielen alle B-Lymphozyten aus, die die Aufgabe der Antigenpräsentation normalerweise übernommen hätten, wodurch die JC-Viren die Oberhand gewinnen konnten und eine PML auslösten.

Und schon wieder ist ein Mensch zum Opfer der Gier pharmazeutischer Unternehmen geworden. Man darf aber nicht vergessen, dass die pharmazeutische Industrie ihre Medikamente nicht selbst verordnet. Verantwortlich dafür sind Ärzte, die unkritisch und fahrlässig mit dem Immunsystem der ihnen anvertrauten Patient*innen herumspielen. Es stehen gefährliche Langzeit-Immuntherapie-Konzepte dahinter, die ohne wissenschaftliche Evidenz für einen Patientennutzen von Meinungsführern unter den Neurolog*innen konstruiert wurden. Kern des aktuellen Konzeptes ist eine Dauerimmuntherapie ab Diagnosestellung mit wechselnden, möglichst unmittelbar aufeinanderfolgenden Substanzen mit ansteigender Wirkstärke und zunehmenden Nebenwirkungsrisiken, ohne dass man hierfür Sicherheitsdaten zur Verfügung hätte. Die Medikamente werden zur Zulassung nämlich nur an relativ kurz Erkrankten mit maximal einer Vortherapie, und zwar nur einer Basistherapie, untersucht, nicht an den Patient*innen, an denen sie später ebenfalls eingesetzt werden, den lang Erkrankten, die alle anderen Medikamente schon durchlaufen haben, und deren Immunsystem über viele Jahre hinweg unterdrückt wurde. Gegenwärtig läuft ein großes Langzeitexperiment an MS-Betroffenen, dessen Folgen die Erkrankten alleine tragen.

Jutta Scheiderbauer

Quellen

Quellen
1 N. Tröbitscher: Ocrelizumab: Hirninfektion statt Hoffnungsträger?, URL: https://www.apotheke-adhoc.de/nachrichten/detail/pharmazie/ocrelizumab-hirninfektion-statt-hoffnungstraeger-pml-multiple-sklerose-roche/, 30.05.2017 [21.02.2019].
2 siehe „NEDA“ als Therapieziel: Ein wissenschaftlicher Trugschluss?, URL: https://tag-trier.de/?p=137, 21.06.2015 [03.05.2021].
3 T. Bartsch et al.: „Progressive neurologic dysfunction in a psoriasis patient treated with dimethyl fumarate“, in: Annals of Neurology, 2015, DOI: 10.1002/ana.24471, [07.07.2015].

2 Kommentare

  1. Ich bin einmal mehr froh, dass ich seit Beginn meiner „MS-Karriere“ im Jahr 2002 alle Basistherapien und auch die dringend vom Neurologen angeratene Eskalationstherapie verweigert habe.
    Und noch tausend mal mehr froh bin ich darüber, dass ich das Coimbraprotokoll entdeckt habe: Mit Hilfe individuell eingestellter Ultra Hochdosistherapie Vitamin D unter ärztlicher Begleitung kam mein hochaktiver Verlauf zum Stillstand binnen acht Monaten, im MRT nachgewiesen. Und zusätzlich zur Remission haben sich auch noch die Symptome der letzten zwei Jahre weitestgehend zurückgebildet!

    Um auch anderen diese sanfte aber hochwirksame Therapie nahe zu bringen, habe ich in 09/2016 eine Facebookgruppe gegründet, mit deren Hilfe bereits fünf deutsche Ärzte motiviert wurden, Prof. Dr. Coimbra in Sao Paulo zu besuchen und die Anwendung seines Protokolls zu erlernen. Zwischenzeitlich haben gut 200 Patienten die Behandlung begonnen und es gibt bereits weitere Fälle von Remission und Symptomeückgang. Im April diesen Jahres habe ich auch eine Homepage erstellt: http://www.coimbraprotokoll.de

    Ich würde mich sehr freuen, wenn Ihr Magazin darüber berichten würde und stehe gerne für Rückfragen zur Verfügung!

  2. Ute Steinbach

    Hallo, ich nehme jetzt seit ein paar Wochen Tecfidera und vertrage es recht gut. Lange habe ich mich geweigert, auf eines dieser Medikamente zuzugreifen, leider wurde mein Zustand immer schlimmer, obwohl man behauptet ich hätte einen milden Verlauf. Und genau denjenigen wünsche ich diese Scheiße mal für ein paar Monate an den Hals. Ich wette, der Kommentar würde dann anders ausfallen.
    Aber als ich das mit diesem Vitamin Präparat gelesen habe, bin ich natürlich neugierig geworden. Dazu hätte ich gerne nähere Infos. Wie es heißt und welcher Arzt Erfahrung damit hat.
    Ich glaube, ich würde alles tun, um einen Symtomrückgang zu erreichen.
    LG Ute

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