Rezension: Gut leben ohne Basistherapie

In diesem Buch, herausgegeben von Susanne von Bargen und erschienen im Juli 2020, beschreiben 17 Autor*innen zwischen 29 und 66 Jahren ihre jeweils eigenen, sehr persönlichen Erfahrungen mit der Erkrankung Multiple Sklerose (MS). 

Entstanden ist die Idee zu diesem Buch aufgrund des Erfahrungsaustausches innerhalb einer Facebook-Gruppe (mit dem gleichen Titel wie der des Buches). Das Buch will kein Ratgeber sein und keine Postulate dahingehend aufstellen, wie MS behandelt werden soll oder muss, sondern es möchte „den Menschen eine Stimme geben, die sich gegen die Therapie ihrer MS mit einer Basistherapie entschieden haben“. Durch die Lektüre der einzelnen Erfahrungsberichte ist es möglich, dass die Lesenden den jeweiligen Autor*innen nahekommen können: Die individuellen Lebensgeschichten erzählen teilweise von Kindheit und Jugend, berichten über den Weg von den ersten Symptomen, über Erfahrungen mit Ärzt*innen und Krankenhäusern bis zur Diagnose MS, und lassen teilhaben an den (Leidens-)Erfahrungen mit verschiedenen Medikamenten der immunsuppressiven Basistherapie (BT). Die Gemeinsamkeit aller Geschichten liegt darin, dass sich die Betroffenen irgendwann im Laufe ihre MS-Erkrankung mit der Frage auseinandergesetzt haben, ob eine BT begonnen oder weitergeführt werden soll. Alle haben sich, aufgrund persönlicher Erfahrungen dagegen entschieden. Man begleitet die Autor*innen bei der Entscheidung gegen eine Basistherapie (oder auch Eskalationstherapie) und erfährt, wie diese aktuell mit ihrer MS leben.

Alle Autor*innen haben jeweils einen eigenen Stil zu schreiben: einige haben Ironie und Sarkasmus im Gepäck, andere sind eher sachlich oder schreiben ohne Schnörkel. Die jeweils sehr individuelle und exklusive Auseinandersetzung mit der eigenen MS-Geschichte bringt in der Gesamtheit ein breites Spektrum an Aspekten zu Tage, die sich bei der Konfrontation mit MS aufdrängen: So hat die Leser*innenschaft die Gelegenheit, sich ebenfalls mit den Fragestellungen auseinander zu setzen. Ein Autor schildert seine Überlegungen, ob beispielsweise eine psychisch belastete Kindheit und Jugend ein Auslösefaktor für MS sein kann oder ob das Immunsystem eines Menschen überhaupt moduliert, sprich per BT unterdrückt werden sollte und nicht viel eher gestärkt werden müsse. Ein anderer Erfahrungsbericht legt den Schwerpunkt auf die Frage, inwieweit es Sinn macht, der Empfehlung von Pharmaindustrie und Neurolog*innen zu folgen und Medikamente einzunehmen gegen eine Krankheit, deren Ursprung nach wie vor nicht bekannt ist, und ob man dafür Nebenwirkungen in Kauf nehmen möchte, die zu MS-unabhängigen Einschränkungen führen können. Andere Autor*innen führen mögliche Auslöser der MS an, für die es bisher keine wissenschaftliche Grundlage gibt, wie etwa Impfschäden oder auch Östrogendominanz. Auch die Sichtweise „Krankheit als Chance“ wird in einem Erfahrungsbericht thematisiert.

Viele der 17 Beiträge enthalten Informationen darüber, was die Autor*innen an alternativen Präparaten verwenden oder ob, beispielsweise, eine Ernährungsumstellung oder die Reduktion von Stress das Leben mit der MS beeinflusst haben. Es handelt sich hierbei um ganz persönliche Berichte, Risiken und Nebenwirkungen solcher Präparate und Strategien werden dabei nicht dargestellt. Für all jene, die ganz neu mit der Erkrankung MS konfrontiert worden sind, kann die Fülle an Informationen über die Erkrankung eine Herausforderung sein. Auch sind die Schilderungen der einzelnen Krankheitsverläufe und ihrer Symptome unter Umständen keine „leichte Kost“. Aber die Botschaft ist dennoch, besonders für Betroffene der Anfangsphase der Erkrankung, eine gute Nachricht: Jeder Mensch ist individuell und es gibt kein richtig oder falsch, wenn es um die Behandlung der MS geht; es gibt nur ein „Für mich selbst ist das richtig oder falsch“. Das Schreckgespenst MS wird hier, der allgemeinen Meinung zum Trotz, entlarvt; an MS zu erkranken bedeutet eben nicht automatisch, bald auf einen Rollstuhl angewiesen zu sein o.ä., es gibt keine Automatismen. Und es gibt Alternativen zur Immuntherapie. Und es gibt echte Menschen, die trotz MS und mit ihrer MS ein gutes Leben führen. Mit der Diagnose ist nicht das Leben vorbei. Gleichzeitig wird die Krankheit dennoch nicht verharmlost, aber das Damoklesschwert wird entschärft. Auch „alte Hasen“ können durch die Lektüre des Buches in ihrer eigenen Sicht auf ihre Erkrankung profitieren.

Nicht jeder Beitrag ist leicht zu lesen, da die Autor*innen nicht immer über Erfahrung mit dem Schreiben verfügen, aber darum geht es in diesem Buch nicht. Schön wäre am Ende des Buches ein Anhang gewesen, in dem verschiedene Fachbegriffe oder Bezeichnungen erläutert werden, so dass ahnungslose MS-Anfänger oder nicht so versierte Lesende die Möglichkeit bekommen hätten, unbekannte Begriffe unmittelbar während der Lektüre nachzuschlagen.

Frau von Bargen lädt Interessierte zur Teilnahme an der Facebook-Gruppe „Multiple Sklerose – Gut leben (auch) ohne Basistherapie“ ein; ihre Kontaktdaten (Adresse und Mailadresse) finden sich zu Beginn des Buches. Dies signalisiert einen offenen und an Kontakt interessierten Umgang mit der Leser*innenschaft, die nach der Lektüre des Buches mit eventuell vielen Fragen und Gedanken bei ihr willkommen sind.

Dorothea Jüster

Foto: Haidan/ Unsplash