Zum Umgang mit Therapie-Folgen

Vorab möchte ich alle Neurolog*innen um Verzeihung bitten, die sich redlich und im fairen Stil um ihre Patient*innen kümmern, die im heutigen Gesundheitssystem gute Ärzt*innen geblieben sind, und denen alles das fern liegt, was auf den nächsten Seiten an Defiziten beschrieben wird. Sie sind mit dieser Kritik nicht gemeint, und ich hoffe und ich wünsche ihnen, dass sie ihre Patienten so sorgfältig und wertschätzend erfolgreich weiter betreuen, wie sie es ohnehin schon seit Jahren tun. Leider aber erleben viele MS-Betroffene ihre Neurolog*innen ganz anders, vor allem im Umgang mit den häufigen Nebenwirkungen der Dauerimmuntherapien. Als MS-Patient*in erfährt man vor Therapiebeginn oft weder von der Vielzahl der Risiken, noch erhält man verständlich Auskunft zur erwarteten Ausprägung und Dauer. Die Belastung für den Alltag wird verharmlost, nahezu jede Beschwerde wird als rein MS-bedingt eingeordnet und als Therapiefolge negiert. Oder es fehlt gar jedes Verständnis, wenn man ständige Nebenwirkungen nicht mehr aushalten kann und lieber sein Medikament absetzen möchte. Aussagen wie „Dann sitzen Sie in drei Jahren im Rollstuhl“ „Es kann jederzeit ein schwerer Schub kommen“ oder „Denken Sie an ihr Kind, es ist verantwortungslos, was Sie tun wollen“ sind an der Tagesordnung. Statt Verständnis und Hilfsangeboten erfährt so mancher MS-Betroffener Panikmache und Schrecken. Kein Wunder, dass viele MS-Betroffene ihr Vertrauen in die Neurologie verloren haben. Das Phänomen ist so weit verbreitet, dass wir nicht mehr von Einzelfällen ausgehen können.

Der unbekümmerte ärztliche Umgang mit der hohen Nebenwirkungsrate von MS-Medikamenten ist nicht durch fehlende gesetzliche Regelungen zu erklären.

Die Behandlung hat nach den zum Zeitpunkt der Behandlung bestehenden, allgemein anerkannten fachlichen Standards zu erfolgen“, so ist im §630 a-h des BGB der Behandlungsvertrag zwischen Ärzt*innen und Patient*innen definiert. Dazu gehört laut Gesetz, Patient*innen über zu erwartende Nebenwirkungen vorher ausführlich aufzuklären[1]§630 BGB „Der Behandelnde ist verpflichtet, den Patienten über sämtliche für die Einwilligung wesentlichen Umstände aufzuklären. Dazu gehören insbesondere Art, Umfang, Durchführung, zu … Weiterlesen, sich aktiv um das Erkennen der Therapiefolgen zu kümmern[2]§630 BGB „Der Behandelnde ist verpflichtet, in der Patientenakte sämtliche aus fachlicher Sicht für die derzeitige und künftige Behandlung wesentlichen Maßnahmen und deren Ergebnisse … Weiterlesen sowie alle medizinisch gebotenen Maßnahmen zur Beherrschung der Therapiefolgen zu erbringen[3]§630 BGB „Ein Fehler des Behandelnden wird vermutet, wenn sich ein allgemeines Behandlungsrisiko verwirklicht hat, das für den Behandelnden voll beherrschbar war und das zur Verletzung des … Weiterlesen. Nicht legal dagegen, und gleichzusetzen mit einem Behandlungsfehler, ist das Verschweigen, Abwiegeln, Ignorieren, Aussitzen und Nicht-Behandeln von Therapiefolgen.

Kann es sein, dass man in der Neurologie das tatsächliche Ausmaß der Nebenwirkungsbelastung nicht wahrnimmt? Kann es sein, dass sie nur das Krankheitsrisiko sehen? Kann es sein, dass Neurolog*innen die begrenzte Wirksamkeit der verfügbaren Therapien überschätzen? Kann es sein, dass sie die Prognosedaten nicht kennen? Kann es sein, dass viele nicht nachfühlen können, dass manche ständige Nebenwirkung schlimmer als eine MS-Symptomatik ist? Wie kommt es, dass die Realitäten vieler Neurolog*innen und der MS-Betroffenen voneinander getrennt sind, als ob sie in Paralleluniversen zuhause wären?

Dass solche Defizite abgebaut werden können, habe ich in der Strahlentherapie erlebt.

Die Strahlentherpaie, diese mehr als hundertjährige therapeutische Fachdisziplin, behandelt Krebspatient*innen seit dem Jahr 1896, und hat sämtliche schweren ärztlichen Sünden, auch den Umgang mit Therapiefolgen betreffend, begangen. Jedoch schon in den 1970ern kam in der Krebsheilkunde ein ähnlicher Prozess des Aufbegehrens von Krebspatient*innen gegenüber ihren Ärzt*innen in Gang, so wie er jetzt unter MS-Betroffenen beginnt. Die Initiativen der Patient*innen in der Onkologie erreichten dann auch, dass nach und nach das Nebenwirkungsmanagement integraler Bestandteil komplexer onkologischer Therapieregimes wurde, und heute ist es breit etabliert. Ein Herunterspielen von Nebenwirkungen ist mittlerweile obsolet, im Gegenteil werden Krebspatient*innen von Beginn an und zu jedem Therapiezeitpunkt sowie in der Nachsorge aktiv dazu aufgefordert, Therapiefolgen sofort zu berichten, sobald man etwas davon merkt, damit unverzüglich eine adäquate Konsequenz daraus gezogen werden kann. Diese kann entweder in einer kausalen Behandlung der Therapiefolge, in einer Verzögerung der weiteren onkologischen Therapie, in einem Therapiewechsel, oder eben auch in einem Absetzen bestehen. Niemand in der Onkologie, der auf sich hält, würde heute ein Problem darin sehen, eine Nebenwirkung zuzugeben, und onkologische Patient*innen überleben ihre gefährlichen Therapiekonzepte oft nur deshalb, weil das Nebenwirkungsmanagement ernst genommen wird.

Fragen Sie Ihre Neurolog*innen nach ihrem Wissen über Nebenwirkungen.

Ist beispielsweise bewusst, dass eine zweijährige Zulassungsstudie keine Sicherheit darüber geben kann, dass nicht noch andere, bisher unbekannte Nebenwirkungen später auftreten werden? Fragen Sie, ob man sich vor allem auf die Angaben des Pharmaherstellers verlässt, bzw. auf die Vortragenden der pharmafinanzierten Fortbildungen. Oder ob er sogar nur eine vom pharmazeutischen Hersteller bestellte „MS-Schwester“ die Schwere von Nebenwirkungen der Betroffenen beurteilen lässt. Ist überhaupt bekannt, was man unter einer milden, einer moderaten oder einer schweren Nebenwirkung versteht?[4]Dokumente zur Common Terminology Criteria for Adverse Events (CTCAE), URL: https://ctep.cancer.gov/protocolDevelopment/electronic_applications/ctc.htm, 09.12.2021 [04.05.2021]; U.S. Department of … Weiterlesen Und wurde reflektiert, wie viel an Nebenwirkung man für sich selbst akzeptieren würde? Hat man sich mit den Nebenwirkungen von MS-Medikamenten und den Klassifikationssystemen für die Nebenwirkungserfassung wirklich selbst auseinander gesetzt?

Eine Besonderheit der Neurologie mag darin liegen, dass sie in ihren Ursprüngen keine therapeutisch orientierte Disziplin war. Die meisten neurologischen Erkrankungen waren oder sind auch heute noch kaum kausal positiv zu beeinflussen, schon gar nicht heilbar. Da wäre erst eine Reihe anderer Probleme wichtiger, als Nebenwirkungen zu verhindern, mögen normale Neurolog*innen sich denken. Neurolog*innen überschätzen vielleicht die Wirksamkeit ihrer Immuntherapien deshalb, weil diese ihnen selbst ermöglicht haben, aus dem Zustand der ärztlichen Untätigkeit zu entkommen, den sie für sich persönlich als schlimm erlebt haben. Das erklärt vermutlich auch, warum man in der Neurologie so unwirsch auf Fragen von Patient*innen nach Nebenwirkungen reagieren. Sie werden MS-Betroffene schlicht als undankbar empfinden, die über Nebenwirkungen meckern und immer so viele lästige Fragen nach dem therapeutischen Nutzen haben, wo doch jetzt endlich überhaupt etwas für MS-Betroffene getan werden kann. Doch auch wenn man das psychodynamisch durchaus nachvollziehen kann, rechtfertigt die Befindlichkeit der Neurolog*innen keinen unnötigen Schaden für Betroffene.

Die Neurologie hat für ihre jungen Therapien, zu denen auch die Immuntherapie der MS gehört, kein eigenes Klassifikationssystem der Therapiefolgen entwickelt, aber muss auch gar nicht das Rad neu erfinden, sondern kann auf die schon ausgereifte CTCAE-Klassifikation zurückgreifen. (4) Daneben existieren eigene Kodierungssysteme für „Unerwünschte Ereignisse“ in klinischen Studien. Bei neuen Medikamenten ermittelt man potentielle Nebenwirkungen nämlich so, dass man die Rate an unerwünschten Ereignissen im Studienarm mit dem Prüfmedikament mit der Rate im Kontrollarm vergleicht, und daraus ableitet, was wohl eine Nebenwirkung des Medikamentes ist, und was nur Zufall. Nach der Medikamentenzulassung ist es ärztliche Berufspflicht[5]Ärztliche Berufsordnung §6 Mitteilung von unerwünschten Arzneimittelwirkungen: „Ärztinnen und Ärzte sind verpflichtet, die ihnen aus ihrer ärztlichen Behandlungstätigkeit bekannt werdenden … Weiterlesen, alle Verdachtsfälle auf Nebenwirkung zu melden, was erfahrungsgemäß eher schleppend läuft. Ein Einzelfall kann keine Nebenwirkung nachweisen, erst durch die Häufung über Jahre kristallisieren sich Risiken heraus, daher die Wichtigkeit der Erfassung. Auch wenn für ein neues Medikament der Prozess der Nebenwirkungserfassung noch jahrelang als nicht abgeschlossen betrachtet werden muss, so obliegt es trotzdem den Ärzt*innen, frühzeitig nach Zulassung aus dem Wirkmechanismus und dem Vergleich mit schon verfügbaren Medikamenten eines ähnlichen Typs auf ein prinzipielles Risiko zu schließen. Es ist fahrlässig, nur deshalb allgemeingültige Risiken von Immunsuppressiva zu vernachlässigen, wie opportunistische Infektionen, Krebserkrankungen und belastende Allgemeinsymptome (Fatigue, psychische Nebenwirkungen), Lebertoxizität, Nierentoxizität, höhere akute Risiken für Ältere, mögliche Langzeitfolgen für Kinder und Jugendliche, weil das jetzt in den kurzen Zulassungsstudien noch nicht aufgetreten ist.

Langer Rede kurzer Sinn:
Die Notwendigkeit eines gewissenhaften Nebenwirkungsmanagements der MS-Medikamente müssen die Neurolog*innen wohl erst noch lernen einzusehen. Abschauen dürfen sie es gerne von anderen Fachdisziplinen, die ebenfalls mit gefährlichen Therapieprinzipien hantieren. Die MS-Betroffenen fordern eine sorgfältigere Abwägung der Risiken, faire Aufklärung und bessere Überwachung!

Jutta Scheiderbauer

Foto: Tingey Injury Law Firm on Unsplash

Quellen

Quellen
1 §630 BGB „Der Behandelnde ist verpflichtet, den Patienten über sämtliche für die Einwilligung wesentlichen Umstände aufzuklären. Dazu gehören insbesondere Art, Umfang, Durchführung, zu erwartende Folgen und Risiken der Maßnahme sowie ihre Notwendigkeit, Dringlichkeit, Eignung und Erfolgsaussichten im Hinblick auf die Diagnose oder die Therapie. Bei der Aufklärung ist auch auf Alternativen zur Maßnahme hinzuweisen, wenn mehrere medizinisch gleichermaßen indizierte und übliche Methoden zu wesentlich unterschiedlichen Belastungen, Risiken oder Heilungschancen führen können.“
2 §630 BGB „Der Behandelnde ist verpflichtet, in der Patientenakte sämtliche aus fachlicher Sicht für die derzeitige und künftige Behandlung wesentlichen Maßnahmen und deren Ergebnisse aufzuzeichnen, insbesondere die Anamnese, Diagnosen, Untersuchungen, Untersuchungsergebnisse, Befunde, Therapien und ihre Wirkungen, Eingriffe und ihre Wirkungen, Einwilligungen und Aufklärungen. Arztbriefe sind in die Patientenakte aufzunehmen.“
3 §630 BGB „Ein Fehler des Behandelnden wird vermutet, wenn sich ein allgemeines Behandlungsrisiko verwirklicht hat, das für den Behandelnden voll beherrschbar war und das zur Verletzung des Lebens, des Körpers oder der Gesundheit des Patienten geführt hat. (…) Liegt ein grober Behandlungsfehler vor und ist dieser grundsätzlich geeignet, eine Verletzung des Lebens, des Körpers oder der Gesundheit der tatsächlich eingetretenen Art herbeizuführen, wird vermutet, dass der Behandlungsfehler für diese Verletzung ursächlich war. Dies gilt auch dann, wenn es der Behandelnde unterlassen hat, einen medizinisch gebotenen Befund rechtzeitig zu erheben oder zu sichern, soweit der Befund mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Ergebnis erbracht hätte, das Anlass zu weiteren Maßnahmen gegeben hätte, und wenn das Unterlassen solcher Maßnahmen grob fehlerhaft gewesen wäre.“
4 Dokumente zur Common Terminology Criteria for Adverse Events (CTCAE), URL: https://ctep.cancer.gov/protocolDevelopment/electronic_applications/ctc.htm, 09.12.2021 [04.05.2021]; U.S. Department of Health and Human Services: Common Terminology Criteria for Adverse Events (CTCAE), URL: https://ctep.cancer.gov/protocoldevelopment/electronic_applications/docs/CTCAE_v5_Quick_Reference_5x7.pdf, 27.11.2017 [04.05.2021].
5 Ärztliche Berufsordnung §6 Mitteilung von unerwünschten Arzneimittelwirkungen:
„Ärztinnen und Ärzte sind verpflichtet, die ihnen aus ihrer ärztlichen Behandlungstätigkeit bekannt werdenden unerwünschten Wirkungen von Arzneimitteln der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft und bei Medizinprodukten auftretende Vorkommnisse der zuständigen Behörde mitzuteilen.“

1 Kommentare

  1. Liebe Kollegen, ich bin HNO Arzt in der Praxis und Homöopath, daher verstehe ich beide Lager meiner Meinung nach ganz gut. Ich würde dringend vorschlagen die gegenseitigen Parralleluniversen, wie hier angesprochen zu erforschen. Von der Ärzteseite her gibt es keine Zeit, kein Geld für Beratung, lächerliche Honorare für die Behandlung schwerster Krankheiten ( ich kenne aber DRG MS hier nicht ! , vielleicht irre ich da ) und eine Verpflichtung den Patienten nicht zu gefährden. So wie ich das sehe würde ein korrektes Management viel Zeit und ständigen Kontakt erfordern. Ein sogenannter Informed Consent ist eine Illusion, denn der Arzt ist nicht wirklich Betroffener und hat schon erlebt, dass Schübe folgenlos abklingen. Der Patient erleidet den Schub und niemand garantiert das Ergebnis hinterher. Dies führt leider zu den oben beschriebenen Auswirkungen : Der Arzt klammert sich an Leitlinien oder Informationen aktueller Studien. Es ist immer risikoärmer sich im Main Stream zu bewegen. Wenn man beide Universen nicht gegenseitig versteht oder hier einen Konsens schaffen kann, dann wird sich nicht viel bewegen. Mit freundlichen Grüßen Dr.Mayer-Brix

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